Donnerstag, 5. August 2010

Ayacucho und die Vergangenheit

"Hier muss man ein ganz schoenes Vertrauen in Leute haben, die man nicht kennt", meint die K. waehrend ich mit einem etwas bangen Gefuehl im Magen in den Abgrund jenseits der Fensterscheibe schaue. Wir befinden uns im Bus auf dem Weg von Huancayo nach Ayacucho. Vor etwa zwei Stunden ist unsere asphaltierte Strasse zur steinigen Piste geworden, die irgendwann einmal in einen Berghang oberhalb eines Canyons gemeiselt wurde. Da bisher keine Leitplanke installiert wurde, trennt uns nur die umsichtige Fahrweise des Chofers in Verbindung mit ausbleibendem Gegenverkehr von groesseren Panikattacken. Ziemlich durchgeschuettelt kommen wir eine Reifenpanne sowie einen halben Tag spaeter widererwartend wohlbehalten in Ayacucho (100.000 Einwohner) an.

Nicht nach rechts unten schauen: Busfahrt von Huancayo nach Ayacucho

Ayacucho entpuppt sich als gemuetliches Andenstaedtchen, dessen Bewohner uns aehnlich freundlich-unaufdringlich begegnen wie die Huancayos. Im Gegensatz zu Huancayo sind die Strassen Ayacuchos mit Vergangenheit gepflastert. Mehrfach wurde die Region im Laufe der Jahrhunderte an die Oberflaeche der peruanischen Nationalgeschichte geschwaemmt - und hat manche Narbe davongetragen, die man in Anbetracht der Freundlichkeit der Bewohner nicht vermuten wuerde.

Plaza de Armas im Herzen Ayacuchos

1.) Schon zu Zeiten, als Europa noch im dunklen Mittelalter verharrte, war die Region rund um Ayacucho Sitz einer Hochkultur. Die Wari errichteten zwischen 500 und 1100 n.Chr. ein Imperium, das zu seinen Hochzeiten zwei Drittel der Flaeche des heutigen Perus umfasste. Der Antrieb der Wari war interessanterweise nicht Groessenwahn, sondern das Bestreben, neue Maerkte fuer ihre Produkte zu erschliessen. Ihre Hauptstadt hatten die Wari in der Naehe von Ayacucho errichtet - bis zu 50.000 Menschen lebten hier.

Heute ist von der Wari-Hauptstadt nur noch ein 1500 Hektar grosses Gebiet mit Mauerresten uebriggeblieben, die im Laufe der Jahrhunderte von Kakteen ueberwachsen und vom Wuestenwind erodiert wurden. Als ich heute durch die Ueberreste dieser einstigen Hochkultur spazierte, fuehlte ich mich dennoch in der Zeit zurueckversetzt und konnte mir vorstellen, wie hier einst eine pulsierende Handelsmetropole dem rauen Hochlandklima trotzte. Es kam mir der Gedanke, dass von den meisten Zivilisationen letztendlich nicht mehr uebrigbleibt, als ein paar Mauerreste im Nirgendwo. Einzig die zwischen den Kakteen herumhuepfenden Heuschrecken scheinen der Waki zu gedenken.

Mehr bleibt selten uebrig, wenn Imperien zu Grunde gehen: Ruinen der Waki-Kultur

Ihr Ende fanden die Waki uebrigens vermutlich als sie sich - nachdem sie laengst ihren Zenit ueberschritten hatten - mit einigen anderen Staemmen zusammen taten um ein groessenwahnsinnig gewordenes Nachbarstaemmchen in die Schranken zu weisen. Vor den Toren Cuzcos unterlag diese Koalition jedoch vollkommen ueberraschend der Armee der Aufmuepfigen - die die heutige Geschichtsschreibung als die Inkas kennt und die in den folgenden Jahrhunderten halb Suedamerika unterwerfen sollten.

2.) Nicht unweit der Wari-Ruinen, am Rande des kleinen Doerfchens Quinua, wurde ein weiteres Stueck peruanischer Geschichte geschrieben: auf einem Huegelkamm, der das Tal von Ayacucho ueberblickt, besiegten im Jahr 1824 5.000 Peruaner 8.000 Royalisten und besiegelten damit die Unabhaengigkeit Perus vom spanischen Imperium. Heute erinnert ein 40 Meter hoher Obelisk an die ins peruanische Nationalgedaechtnis eingegangene Schlacht. Auch beim Gang ueber das ehemalige Schlachtfeld, auf dem heute vertrocknetes Gras vom Wind durchstreift wird und Kinder Drachen steigen lassen, konnte ich mir regelrecht ausmalen, wie auf diesem abgeschiedenen Flecken Erde einst gelitten und getoetet wurde.

Obelisk zum Gedenken der peruanischen Unabhaengigkeitsschlacht bei Quinua

3.) Das letzte geschichtstraechtige Kapitel Ayacuchos liegt nicht mal zwei Jahrzehnte zurueck. Die maoistischen Guerillas des Leuchtenden Pfades ueberzogen in den 1980er Jahren (nach dem Ende der Militaerdiktatur und der Etablierung einer demokratischen Regierung) die zentrale Andenregion mit einer blutigen Terrorkampagne (die sich Anfang der 1990er Jahre auf ganz Peru ausgeweitet hatte). Ihren Ursprung nahm der buergerkriegsaehnliche Konflikt in Ayacucho, dessen Umland auch einen Grossteil der ueber 60.000 Opfer (!) zu beklagen hatte. Die Schuld ist hierbei uebrigens nicht alleine den Rebellen zuzuschieben, denn die 1982 ausgesandte Armee wuetete auf der Suche nach Guerillas mindestens genauso schlimm, besonders unter der indigenen Bevoelkerung. Bis zur Verhaftung der Fuehrungsriege des Leuchtenden Pfades im Jahr 1992 wurden etliche Provinz-Politiker ermordert, Hilfsprojekte zerstoert, unzaehlige Menschen verschleppt/gefoltert und ganze Doerfer massakriert. Die Aufarbeitung dieser traumatisierenden Epoche hat erst in diesem Jahrtausend begonnen. Initiierend dabei war unter anderem der von Wittwen gegruendete Anfasep-Verein (Asociacion Nacional de Familiares de Secuestrados Detenidos y Desaperacidos del Peru), der ein Museum hier in Ayacucho betreibt, das die K. und ich gestern besucht haben.

Kunstwerk im Anfasep-Museum, das die Graeultaten des Leuchtenden Pfades (links) und der peruanischen Armee (rechts) veranschaulichen soll

Nach dieser geballten Ladung (teils schockierender) Geschichte glauben wir einen ersten Einblick in die peruanische Seele erhascht zu haben. Als naechstes wollen wir noch einige Jahrhunderte zurueckgehen, und uns der vor der Konquista massgebenden Inka-Kultur zu naehern. Wo ginge das besser als im "Heiligen Tal", wo fast jeder Berghang Inka-Ruinen offenbart. Um dorthin zu kommen, muessen wir allerdings zwei zehnstuendige Busfahrten durch die Berge ueberstehen, die der letzten in nichts nachstehen duerften - dabei hoffen wir auf moeglichst viele Leitplanken und nuechterne Busfahrer. Vielleicht wachen ja einige der Inka-Gottheiten ueber uns.

1 Kommentar:

  1. Danke für die Geschichtsstunde und die häufigen Updates! Man hat fast das Gefühl selbst mit zu reisen.

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