Donnerstag, 24. Juni 2010

Die Stadt der zwei Gesichter

Mein Reisefuehrer behauptet, Quito habe tausende Gesichter. Nach fuenf Tagen in der 2.800 Meter ueber dem Meeresspiegel gelegenen Hauptstadt Ecuadors, kann ich dem nicht ganz zustimmen.

Es stimmt zwar: wenn ich aus dem Fenster meines Zimmers bei meiner Gastfamilie an einem der oestlichen Haenge Quitos ueber die weitlaeufige Stadt blicke, gleichen sich zwei Blicke so gut wie nie. Trockene Hitze, windige Schwuele, dunkle Wolkenmeere, geisterhafte Nebelschwaden oder kraeftige, kurze Regenschauer - manch Taxifahrer kommentiert die wechselhaften klimatischen Bedingungen angeblich mit "el tiempo es como las mujeres" ("Das Wetter ist wie die Frauen"). In der Tat kann man in Quito jeden Tag drei Jaherszeiten erleben - nur schneien tut es nie, dazu ist es hier, an der mitad del mundo, doch zu warm.

All diese Facetten des Wetters erscheinen mir aber nicht mehr zu sein, als verschiedene Ausdruecke im immer gleichen Gesicht der Stadt. Quito bei Tage ist - zumindest im Viertel la Mariscal, der Neustadt - stets ein lebendiger Strom unterschiedlichster Menschen, die sich zwischen unzaehligen kleinen Restaurants, Cafés, Tante-Emma-Laeden, Internetcafés, Obststaenden und ihre Ware anpreisenden Strassenverkaeufern hindurchschlaengeln.
Die Altstadt hingegen besticht durch enge, koloniale Gassen und vollkommen deplatziert wirkende, pompoes verzierte Kirchen und Basilikas. Das Einzige, was diese von ihren Vorbildern in Italien oder Spanien zu unterscheiden scheint, ist das Ziffernblatt der Uhr, das nicht in paepstlichem Gold, sondern in billigem blauen Plastik im Kirchturm prunkt. Allgemein erscheint es dem Europaer auf Suedamerika-Reise, als seien Kirchen gewissermassen die Coca Cola des 16. Jahrhunderts - mit viel Aufwand herangeschafft, aber sobald einmal etabliert, der absolute Renner!

Dieser lebendigen Seite Quitos, die man zwischen 6:00 und 18:00 erleben kann, steht jedoch eine andere, etwas weniger einladende entgegen: Nach Einbruch der Dunkelheit durchfaehrt einen als gringo ein immer wieder aufblitzendes, jedoch allgemein latentes Unsicherheitsgefuehl. Es wird einem ueberall nachdringlich geraten, nach 19Uhr alle Strecken nur noch per Taxi zurueckzulegen. Fast jeder Reisende hat die ein oder andere Ueberfallsstory auf Lager. Und im Schutze der Nacht lauert so manche dunkle Gestalt an den Ecken sonst menschenverlassener Strassen.
Interessanterweise steht vor allem die Touristengegend la Mariscal im Ruf, das unsicherste Viertel zu sein. Hier steppt jedoch abends trotzdem der Baer: braungebrannte Backpacker stroemen mit arrogantem Blick von Bar zu Bar und scheinen wenig Interesse an mehr als der naechsten cerveza, dem Bier der Einheimischen, zu haben. Dem kriminellen Potential steht unmittelbar im Ausgehviertel eine enorme Polizeipraesenz gegenueber - auf die umliegenden Blocks oder schon auf die Randstrassen des Touristenviertels erstreckt sich diese Praesenz aber nur bedingt, weswegen der sicherheitsbewusste Reisende tatsaechlich auf dem Heimweg brav ins 2$ teure Taxi steigt.

Vor allem beeindruckt vom hellen der zwei Gesichter Quitos, habe ich mich derweil entschlossen, hier noch eine weitere Woche zu bleiben. Ich will weiter an meinem Spanisch arbeiten. Der Sprachkurs erweist sich als ausserordentlich effektiv, auch wenn die Amerikanerdichte sicher nicht im Sinne des Reiseplanenden ist/war. Meine Spanischversuche bewegen sich indes wellenartig voran - einem Tag grosser Zuversicht folgt mit grosser Sicherheit ein Tag der Ernuechterung. Zwar kann ich mittlerweile einigermassen ser und estar auseinanderhalten, das Konjugieren der Verben im Kopf (in verschiedenen Zeiten) und das Bilden von Saetzen verlangt mir aber immer noch meine gesamte Gehirnkapazitaet ab. So spreche ich zwar, aber noch langsam und bedaechtig, scheinbar weit von fluessiger Kommunikationsgeschwindigkeit entfernt.

Am Wochenende werde ich dann wohl erste Ecuadorianische Landluft schnuppern und zusammen mit anderen Sprachschuelern eine Lagune in einem Vulkankrater besuchen. Dort hoffe ich zwei Tage Abstand vom hektischen Quito zu gewinnen und der Natur Ecuadors etwas naeher zu kommen. Perfekt waere es, wenn ich dort nur Spanisch sprechen koennte. Mal schauen, vielleicht laesst sich ja ein Englisch-Embargo etablieren - oder aus den Tiefen des schlummernden Vulkans steigt die Erkenntnis empor, dass die Mitte der Welt Spanisch spricht.

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